Werner Nekes |

Kinefeldtheorie

Kinefeldtheorie von Werner Nekes
Ein Beitrag von Werner Nekes zum “International Symposium on Theory of Film” im “Center for Twentieth Century Studies at the University of Wisconsin, Milwaukee”.

erschienen in: Afterimage, November 1977

Ich möchte eine allgemeine Einführung in das Wesen des Films geben. Jemand erwähnte vorhin den Titel eines meiner Filme.

Er sprach es T Wo Men aus. Meine Aussprache ist TWOMEN, und diese Aussprache ist die Verbalisierung der visuellen Anstrengung, die das Hirn zu leisten hat, wenn es Bilder in Filmen liest. Ich habe diesen Titel wegen seiner programmatischen Qualitäten ausgewählt, sie treffen das Zentrum des Films. Der Titel ist programmatisch, weil er sich mit der Lesbarkeit von Film auf der horizontalen Ebene auseinandersetzt, horizontal dem vertikalen Lesen gegenübergesetzt. Die Horizontale beziehtsich auf die Zeit-Achse: Information aus den verschiedenen Zeitsegmenten zu erhalten, wie sie aufeinander folgen. Das vertikale Lesen erfolgt dann, wenn der Betrachter Informationen auf verschiedenen Bildebenen innerhalb eines Zeitsegmentes zu verarbeiten hat. Dies bedeutet, dass das horizontale und vertikale Lesen der Bilder gleichzeitig erfolgen kann. Nicht alles, was ich sage, wird sofort klar sein und leicht verstanden werden, aber einige Sachen, die ich zu sagen habe, sindziemlich wichtig, so scheint es mir, da sie nicht in anderen Büchern über den Film zu finden sind. Wir alle wissen, dass Film ein Zelluloidstreifen ist, auf dem Bild auf Bild transportiert und innerhalb einer begrenzten Zeit projiziert wird. Stellen Sie sich die seltsame Schreibweise des Titels T-W0-MEN auf drei aufeinanderfolgenden Einzelbildern vor: Das T auf Bild eins, dann das WO auf Bild zwei und das Men auf dem dritten, und diese Bilder werden projiziert, dann haben Sie eine kleine Kette filmischer Information. Man liest “two woman“, weil die Trägheit der Retina die Bilder verbindet. Esverschmelzen Bild A und Bild B, aber auch gleichzeitig, Bild B und Bild C. Eine semantische Ambiguität ist das Ergebnis der Verbindung dieser beiden Informationseinheiten, die ich”Kine” benenne. Was ich sage, ist folgendes, wenn man sich nur auf das Medium Film konzentriert und wenn man sich selbst fragt: was bedeutet das Medium? Was leistet es? Auf welchen Elementen baut es auf? Oder was sind diese kleinsten Elemente? Dann gelange ich zu der Antwort, dass Film der Unterschied zwischen zwei Bildern ist: also die Arbeit, die das Hirn zuleisten hat, um die Verschmelzung zweier Bilder zu produzieren. Diese kleine Einheit, die ich Kine nenne, ist die denkbar kleinste Einheit des Films. Obwohl sie aus einer Vielzahl von Einheiten zusammengesetzt ist, bestimmen diese visuellen Komponenten noch nicht die filmische Sprache. Wenn Sie z.B. eine solch grosse Einheit wie ein Einzelbild sehen, dann haben Sie eine fotografische Information: wenn Sie jedoch zwei Bilder sehen, dann bestimmt der Unterschied zwischen ihnen die kleinste mögliche Einheit filmischer Sprache, eine filmische Information. Jeder Film kann aus diesem Blickwinkel des Unterschiedes betrachtet werden, welcher Ergebnis einer Zeit/Raum- Beziehung ist. Die Analyse des Kines befähigt uns zu Schlüssen über den Sprachgebrauch, um das Niveau der filmischen Information zu bestimmen, und zwar in Beziehung zur Arbeit, die der Zuschauer zu leisten hat. Bis heute untersuchen die Filmkritik oder die Filmtheorie, selbst die meisten Film-Semiotiker, nur längere Filmeinheiten wie die Montagesequenz. Wenn Sie einen kurzen Blick auf die Geschichte des Films aus der Sicht der Informationstheorie werfen, dann lässt sich sagen, dass der Film immer für den Transport der Information benutzt wird. Bei den ersten Filmen hatte man die Kamera aufgebaut und eine Kassette auf der Kamera. Die Kamera lief so lange, wie der Film lang war. Dies waren die “One reelers”. Sie dauerten anfänglich zwischen drei und fünf Minuten. Wenn ich jetzt die Unterschiede zwischen den Einzelbildern betrachte, den Kines, dann werde ich sehen, dass die Zeitraumunterschiede sehr gering sind. Die Bilder haben allesamt dieselben Relationen zueinander: a1, a2, a3, a4 bis an, dem letzten Bild, dem Ende des Films. Eine neue Zeit/Raum-Beziehung wurde zufällig von Méliès entdeckt.

1896 nahm er eine Verkehrszene am Place de l’Opera auf, die Kamera stoppte für einige Sekunden. Der Effekt in der Projektion war, dass das von Pferden gezogene Vehikel sich in einen Begräbniszug, Männer in Frauen und umgekehrt, verwandelten. Unter all den Kines, beladen mit den gleichen Zeit/Raum-Unterschieden der visuellen Information, befand sich ein Kine, in dem der Unterschied grösser war; die Zeit war verkürzt, der Unterschied erweitert. Diese neue Qualität des Kines sollte die Entwicklung der Filmsprache bestimmen. Wenn eine grosse Zahl von Kines mit diesem Zeitunterschied betrachtet ist, darin sprechen wir von Zeitraffer; wenn wir jedoch die Zeitunterschiedlichkeit verkürzen, von Zeitlupe. Natürlich ist in einer solchen Sequenz das Informationsniveau genauso hoch wie in einer Normalaufnahme, weil die Vorhersagbarkeit von Bild zu Bild in Hinsicht auf die Zeitdifferenz gleich ist. In anderen Worten: Je geringer die Chance, das folgende Kine zu antizipieren, desto höher das Informationsniveau des Films. Für den Film könnten wir daraus ableiten: Die Vorhersagbarkeit des Kines bestimmt das Niveau filmischer Information. Diese Aussage korrespondiert mit der Tatsache, dass, je höher das Niveau filmischer Information ist, desto eher realisiert der Film seine ihm innewohnenden Möglichkeiten. Oder negativ ausgedrückt: Film ist dann nicht mit Grammatiken anderer Medien befrachtet. Ein anderer historischer Schritt in der Entwicklung der Filmsprache war der Ortswechsel, oder der Raumwechsel. Ein Beispiel für den Wechsel verschiedener Einstellungen ist “Das Leben eines amerikanischen Feuerwehrmannes” von Porter. Er nahm, was wir heute dokumentarisches Material über die Arbeit der Feuerwehr nennen würden, das andere früher aufgenommen haben, kombinierte es mit eigenen Aufnahmen, die eine junge Frau mit ihrem Kind in einem brennenden Haus zeigen. Das Feuer wurde jedoch mit Wasser gelöscht, das vielleicht ein Jahr zuvor versprüht und aufgenommen wurde. Worauf es ankam war die Verbindung verschiedener Örtlichkeiten und unterschiedlicher Zeiten. Danach folgten eine Reihe anderer Schritte, welche die narrative Struktur des Films aufzubauen halfen. Die Bildarbeit sieht meist so aus: Szenen mit Kines geringer Informationen von a1, bis an, und beginnend mit b1 bis bn, bis cn etc. Nicht so grosse Beachtung wurde den Kines geschenkt, die eine höhere Informationslast trugen, wie der Uebergang von an/b1, bn/c1, cn/d1 etc. Unter den ersten, die einander folgten, (a1, bis an, gegenüber b1, bis bn, etc.) waren Kuleshow, Pudowkin und Eisenstein.

Die assoziativen Montage-Prinzipien von Eisenstein wurden bekannt als Montage der Attraktionen. Dies bedeutet, um ein Beispiel zu geben, dass Eisenstein an einer Ideenverschmelzung arbeitete, die aus der Einstellung eins (a1 – an/ b1 – bn) in Opposition zur Einstellung zwei bestand. Zum Beispiel Einstellung eins ein Tier und Einstellung zwei einen Kapitalisten. Die Gegenüberstellung des Inhalts der beiden Einstellungen ergaben in diesem Fall die ideologische Verschmelzung, die Information. Die Fragestellung: was bedeutet diese Szene, in Verbindung mit der folgenden? Was bedeuten sie gemeinsam” War sie Basis für all die folgenden Montage-Theorien? Bis jetzt haben die Filmtheoretiker ihre Anstrengungen auf diese Montage konzentriert , wenn sie etwas über die Sprache des Films aussagen wollten. Dieser Gesichtspunkt war in gewisser Hinsicht beim narrativen Kino, mit verwobenen literarischen Inhalten, erfolgreich. Wenn jedoch dieser Gehalt nicht so offensichtlich die visuellen Qualitäten versteckte, mit anderen Worten, wenn der Film seine eigenen medialen Möglichkeiten nutzte, dann versagte diese Methode der Kritik. De Kritiker übersahen freilich keineswegs solch unerwartete Filme. Außergewöhnliche Filme wie “Ballet Méchanique” von Fernand Léger fielen aus dem Rahmen bekannter und benutzter Kategorien des Denkens über Film. Léger gebrauchte Film nicht als literarisches Medium, er erfand eine grosse Zahl neuer Kines, basierend auf visueller Bewegung. Bezeichnend für die Kritik ist es, dass derjenige, der ernsthaft daran arbeitet, das Medium von seinen alten Begrenzungen zu befreien sucht, in eine Aussenseiterstellung gedrängt wird. Man achtete nur den Maler hinter der Arbeit, verstand aber nicht, dass er als Film-Künstler arbeitete, oder als Film-Macher. Einer, der den Übergang des letzten Bildes einer Szene a n ernst nahm, war Peter Kubelka in seinem Film “Unsere Afrika Reise”. Ein Beispiel, das er hervorhob, ist der Hals der Giraffe auf Bild a n, und das Gewehr, welches die Giraffe erschiesst an der gleichen Stelle im Bild auf dem folgenden b 1. Zusätzlich zur visuellen Verschmelzung der Orte oder Positionen in den Bildern, erhält man Informationen über den Zusammenhalt der Bildinhalte, oder der Beziehung zwischen Gewehr und Giraffe. Das allgemeine Denken über Film beschränkt sich hingegen auf die gesamte Länge einer Einstellung als Einheit. Wenn man eine Entwicklung aus der Filmgeschichte ableiten möchte, mit Lumière und Meliès beginnend bis zur Gegenwart, indem man Filme streng vom informationstheoretischen Standpunkt her betrachtet, auf das Anwachsen der transportierten Informationsmenge zwischen und innerhalb der Einstellungen eingehend, gewinnt man für den Informationszuwachs eine ansteigende Asymptote. Dies korrespondiert mit dem allgemeinen Fortschrittsprinzip, welches Buckminster Fuller Dymaxion nannte, “ein Maximum an Effizienz aus einem Minimum von Material oder Energie”.

Ich denke, dass dies Prinzip, welches Fuller für Industrie-Design gebrauchte, auch auf Film anwendbar ist. Dies Prinzip ist eine Konstante in der Entwicklung der Zivilisation “ein mehr aus einem weniger” zu erzielen. Dies wird sehr deutlich, wenn man sich die Entwicklung der Telephone, Radios, TVs, Computer etc. vor Augen führt. Fuller entwickelte ebenfalls die geodätischen Kuppeln. Heute Nachmittag besuchte ich seinen künstlichen Dschungel, für den das Problem zu lösen war, mit geringster Materialmenge einen möglichst grossen Lichteinfall für die Pflanzen zu schaffen. Der transparente geodätische Dom ist die konsequente Lösung. Vergleichen Sie nur einmal den allmählich strömenden Informationsfluß des epischen Films zu Beginn der Filmgeschichte mit denen, die wir heute zu erfassen gelernt haben, vergleichen Sie die Fernsehwerbung von vor 20 oder 10 Jahren mit den heutigen. Wir können jetzt schon von einer Gewöhnung an Mehrfachbelichtungen, kurzen Einheiten flickernder Einzelbilder etc. sprechen. Für die Werbefilme stellt sich das Problem, möglichst viele Informationen über das Produkt innerhalb kürzester Zeit zu zeigen. Generell ist das Informationsniveau viel höher als früher. Der Trend, den man daraus ableiten kann, ist, ein Maximum an Informationen innerhalb eines Minimums an Kines zu transportieren. Film ist eine beständig sich verändernde, lebende Sprache, die wir lernen, deren Verarbeitung wir lernen müssen.

Der Lernprozess geschieht beim Film meist unbewusst durch Wiederholung. Dies ist unser Standpunkt. Was kann das bedeuten? Wohin führt diese Tendenz? Ich halte es für falsch, wenn Filme in der Filmtheorie analysiert werden, dass man nur diesen einen speziellen Punkt in einem Film beachtet, nämlich in der Montage. Ich halte dagegen: Jeder Wechsel von einem Bild zum nächsten ist eine Montage. Dieser Satz ist jedoch nicht allzu sinnvoll, erstens, weil der Ausdruck Montage zu sehr für einen anderen Inhalt benutzt wurde, und zweitens, weil der Ausdruck tautologisch wird, wenn Film nur aus Montagen besteht. Deshalb nenne ich diese kleine Einheit, das kleinste Element filmischer Sprache, ein Kine, und vielleicht wird dieser Ausdruck aufgegriffen werden. Der Unterschied zwischen zwei Bildern bestimmt das Kine. Vereinfacht, der Raum/Zeit Unterschied kann anwachsen von d o (welches keine sichtbare Bewegung bedeutet) über d min., benutzt für die Illusion von Bewegung (a1, a2, a3) bis zu d max (a,b,c) welche eine Verschmelzung der Räume oder Formen produzieren können, oder “Gestaltsprünge”, wie ich sie nennen möchte. Aber es ist nicht nur richtig zu sagen, dass Bild a mit Bild b verschmilzt, denn Bild b verschmilzt auch mit Bild c, so erhält man Reihen von Verbindungen oder Informationsketten. ( … ) Gestern waren Dore und ich in Montreal, wo wir Norman McLaren trafen, der sein Leben dem Film gewidmet hat. Er arbeitet an seinem letzten Film an der Frage was Film ist. Ich fragte ihn, was denkst Du? Was sind Filme? Was können sie leisten? Er beabsichtigt, in seinem Film die Studenten zu unterrichten, was Animation sein kann oder wozu Filme in der Lage sind. Es dürfte Sie interessieren, seine Kategorien kennenzulernen. Er erwähnte fünf, die auf dem Prinzip basieren, dass Filme fähig sind, Bewegungen zu vermitteln. So sind die verschiedenen Kategorien der Bewegungen in einem Film nach McLaren folgende:

1. konstante Bewegung;
2. beschleunigte Bewegung;
3. verlangsamte Bewegung;
4. keine Bewegung oder stehende Bilder;
5. unvorhersagbare Bewegung; so möchte ich Sie fragen, ob wir wirklich alles, was im Film geschieht, diesen fünf Kategorien zuordnen können?

Oder können Filme etwa mehr? Eine andere Sache die für McLaren wichtig ist, ist die Uebertragung der Emotion durch die Bewegung (”emotion by motion”). Deshalb unterscheidet er meiner Ansicht nach auch zwischen Beschleunigung und Verlangsamung.

Aber was hat das Kino mit Emotionen zu tun? Für mich fallen Beschleunigung und Verlangsamung in die selbe Kategorie. Die Bewegungen sind in gleicherweise vorhersagbar wie in den Kategorien keine Bewegung oder Bewegungskonstanz. Wenn ich dies sage, vergleiche ich es mit dem Vorgang der Antizipation von Zahlen in Reihungen, wie man bei 1, 2, 3, die 4 vorwegnimmt; oder bei 61, 51, 41 weiss, dass die 31 folgen wird; oder nach 3, 3, 3 folgt eine weitere 3; oder man weiss, dass nach 1, 7, 3, 10 die 6 folgt etc. So hat man reguläre oder irreguläre, konstante, zunehmende oder abnehmende Reihen. Vielleicht funktionieren diese Kategorien für McLaren wegen seiner Bewegungs/Emotions-Relation. Wie Sie gesehen haben, benötige ich nur eine Beschreibung für alle mögliche filmische Information. Die Formel für ein Kine ist: k =(a + 1) (x,y,t) – (a) (x,y,t). In Worten bedeutet dies die Verschmelzung der beiden Bilder (a+1) und (a) bestimmt die filmische Information, aufgebaut auf den Unterschieden der drei Parameter der filmischen Information, oder den Signaldimensionen, den Koordinaten des Raumes x, y und der Zeitkoordinate t.

Wenn man Filmanalyse ernsthaft betreiben wollte, und nicht nur nacherzählen würde, was man für den literarischen Inhalt hält, muss man die Kybernetik zu Hilfe nehmen, denn sie liefert Modelle für die Klassifikation von Kines, Beschreibungsformen für die Interrelationen zwischen Informationsfeldern. Vorstellbar sind gleichfalls Maschinen wie Potentiometer, die Informationsenergie eines Kine oder auch eines ganzen Films messen. Informationsenergie wird von der “Reibung” zwischen zwei Bildern verursacht. Ein Zuschauer könnte sich für einen Abend möglicherweise eine bestimmte Menge an Informationsenergie wünschen. Durch die Erforschung der Syntax mit der Klassifikation der Kines, der Stellungen der Elemente, kann man sich bewusster werden über Effizienz, Kapazität eines Kine. Konsequenterweise wird dies die semantische Ebene beeinflussen. Neues filmisches Denken wird ermöglicht. Die Ursache dafür liegt darin, dass, wie wir wissen, unser Denken beeinflusst ist von der Grammatik, die wir benutzen. Die Regeln der Grammatik bestimmen, was wir denken. Deshalb erfinden wir künstliche Sprachen für Gedanken, die wir in unseren normalen Kommunikationsprozessen nicht haben können. Wie Benjamin Lee Whorff immer wieder betonte, kann der Fortschritt des Denkens nur “gegen” die Sprache, oder durch Sprachveränderung realisiert werden, oder, wie Philip Frank die Einstein’sche Theorie der Relativität der Zeit als eine Reform der Semantik beschrieb. Naturwissenschaftler stellten fest, als sie mit diesen Problemen konfrontiert wurden, dass ihnen bei der Weiterarbeit nur neue Systeme der Logik helfen könnten.

Die Grundlage der Logik der Filmsprache ist die Verwendung der kleinen Einheiten. Wir vergessen zu leicht, dass Film mit seiner spezifischen Logik, eine verhältnismässig junge Sprache ist, die wir unter Anstrengung erlernt haben, die für unsere Generation zumeist unterbewusst geblieben ist. Es war nicht selbstverständlich für uns, die Kombination zweier Einstellungen zu verstehen, die Beziehung zwischen einer Einstellung, in der jemand auf der Strasse nach oben schauend gezeigt wird, und der nächsten Einstellung, in der wir eine andere Person aus einem Fenster herunterschauend sehen, zu begreifen, dass hier ein Prozess der Interaktion zwischen zwei Personen abläuft. Wir haben dies zu verstehen gelernt. Erinnern Sie sich nur an die Schwierigkeiten, die Blitzer und Griffith hatten, als sie zum ersten Male Einstellungen in der “amerikanischen Art” drehten. Der Produzent meinte, dass der Zuschauer es nie verstehen könne, warum der Schauspieler in der Mitte durchgeschnitten sei. So folgten Schritt auf Schritt, bis wir das erreichten, was wir heute als Film kennen. In diesem Zusammenhang sollten wir nicht vergessen, dass die meisten dieser Schritte gegen das Establishment der Filmindustrie verwirklicht wurden. Diese Institution im Dienst der Bedürfnisse ist nicht daran interessiert, irgendetwas zu entwickeln, zumeist bemüht sie sich, das gleiche wieder und wieder zu verkaufen, die allgemein bekannte Unterhaltung, und nicht die Anstrengung, die Beteiligung des Intellekts. Nur aus der Notwendigkeit neuer Moden fanden einige Macharten der sogenannten Avantgarde-Filme ihren Weg ins kommerzielle Kino. Verständnis erwuchs dem wiederholten Sehen. Verdauung wurde Verstehen. Die Industrie verkauft immer noch Geschichten und Sensationen, nicht wissend, dass Film hauptsächlich über sich selbst informiert, sich selbst mitteilt. Es ist nicht das gefilmte Subjekt, das übertragen wird, sondern das Bild des Subjekts, welches in den Möglichkeiten der Filmsprache selbst liegt.

Der Film drückt nur sich selbst aus, seine eigene Natur, weshalb er so ideal ist, das seltsame Wechselspiel zwischen den Dingen zu spiegeln. Die Bearbeitung des Filmmaterials, der Gebrauch der Kines, die Höhe des Informationsniveaus bestimmen die Anstrengung, die das Hirn des Betrachters zu leisten hat. Und diese Anstrengung ist die Botschaft des Films. Dies Problem wurde schon von einem alten Sumerer 2000 v. Chr. berührt, als er sich auf einer Tonscheibe darüber beklagte, dass es keine neuen Geschichten zu erzählen gäbe, dass jede mögliche Geschichte schon erzählt und bekannt sei. Die folgende Literatur sollte uns jedoch noch viele Geschichten bescheren. Die Bedeutung der Geschichten lag nicht in ihrem Gehalt, sondern im Gebrauch des Sprachmaterials, und die Art der Verwendung des Materials reflektierte das jeweils neue Verständnis der Welt. Die Organisation des Materials und die Struktur der verwandten Elemente beeinflussen den Betrachter. Dies könnte das Problem der Brutalisierung durch Gewalt-Filme berühren. Ein Zuschauer, der gelernt hat, dass der Film etwas Organisiertes darstellt, steht nicht unter dem Zwang, wie derjenige, der keine ästhetische Erziehung genossen hat, und sich so naiv mit dem Gangster-Helden identifiziert. Wie Sprache ein Ausdruck des Denkens ist, so wird das Denken auch durch die Formen der Sprache bestimmt. Die Wiederholung der immer wieder selben Erzählstrukturen im kommerziellen Film lässt das Denken des Zuschauers erstarren. Z.B., wenn Sie eine Grasfläche überqueren wollen, dann bestehen unendlich viele Möglichkeiten, dies zu tun, man benutzt aber immer die gleichen Wege. Die Wege unseres Bewusstseins sind niedergetrampelt. Die Neuronen im Hirn leisten ständig die gleiche Arbeit. In diesem Sinne wird unsere Wahrnehmungsfähigkeit gestärkt oder geschwächt durch den Sprachgebrauch oder die Sehgewohnheiten. Der Gebrauch der Sprache ist nur ein Zugang zur Wirklichkeit. Es existieren so viele Wirklichkeiten, wie es verschiedene Systeme der Logik, oder verschiedene Grammatiken in den Sprachen gibt. Wenn wir uns nach der Beschaffenheit der Realität der Filmsprache fragen, finden wir Informationsfelder vor. Die Information in diesen Feldern lässt sich statistisch beschreiben. Die Informationsebene wird durch die Wahrscheinlichkeitstheorie bestimmt. Eine bedeutende Charakterisierung des Kine ist seine Ambiguität. Die filmische Information ist janusköpfig, in sich hinein- als auch herausschauend. Das bedeutet, wenn man vier Einzelbilder a, b, c, d hat, bilden die Bilder b und c ein Kine, aber b bildet ebenfalls ein Kine mit Bild a und c bildet ein Kine mit Bild d. Ueberdenkt man dies, könnte man die Relation innerhalb eines Kine und seine Relation zu anderen Kines, welche Informationsfelder bilden, Unschärfe-Ungewissheitsrelationen nennen: Unschärfe im Heisenbergschen Sinne. Die konstante Täuschung der Wahrnehmung ist eine Funktion der Zeit.

Die Arbeit oder Hirnkapazität innerhalb der Zeitsegmente ist vom Sinnesorgan abhängig. Das Kine speichert zwei Zeitsegmente und die Wahrnehmung des Kine geschieht innerhalb eines Zeitsegments, das gleichzeitig Teil eines zweiten Zeitsegments ist. Vergleicht man die gespeicherten Zeiten zweier Bilder mit dem Gedächtnis, welches ein Zeitspeicher ist, dann produziert die Trägheit der Wahrnehmung von Gedächtniseinheiten Imagination. Die Vorstellungskraft wird zur Illusion der gespeicherten Zeit, die fiktiv ist. Die Vorstellungskraft ist eine Funktion der Gedächtniseinheiten. Der Zusammenprall von Gedächtniseinheiten produziert Imagination. Übrigens erklärt dies, warum unsere Fähigkeit der Vorstellungskraft nicht etwas aus Elementen heraus produzieren kann, die noch nicht gespeichert sind in uns. Was die Vorstellungskraft produzieren kann, ist die Umformung der Muster von Elementen, den Aufbau neuer Relationen. Die Faszination, die vom Film ausgeht, kann mit der Analogie zu den imaginativen Prozessen des Denkens erklärt werden. Die mögliche Ambiguität der filmischen Information ist den Kinefeldern verbunden, die thaumatropisch organisiert sind. Maximale Differenzen können Ungewissheits-Beziehungen reflektieren. Eine grosse Zahl der Illusionen oder Entscheidungen, die widersprüchlich sind, rufen eine Unentschiedenheit des Verstandes hervor, welche zu einer neuen Qualität von Film führen könnten.Um ein vereinfachtes Beispiel verschiedener Illusionen zu geben, welcher der Wahrnehmung der “Realität” widersprechen: z.B. zeigt Bild a einen Stuhl, während man auf dem nächsten einen Mann in sitzender Position sieht. Sieht man diese Kine projiziert, erkennt man den Mann auf dem Stuhl sitzend. Was geschieht, wenn man diesem Kine ein Bild hinzufügt, das in der gleichen Position wie zuvor den Stuhl einen Couch zeigt? Dann bildet das Bild mit dem Mann eine neues Kine mit dem Bild der Couch. Die Verschmelzung der Bilder schafft uns die Illusion, dass der Mann sowohl auf dem Stuhl, als auch auf der Couch sitzt. So ist es ziemlich unsicher, was geschieht, und das ist der Grund, warum man von “Film” spricht. Ein anderer konditionierender Einfluss, den wir berücksichtigen sollten, ist die soziale Wahrnehmung (social perception), die ich kurz streifen möchte.

Auch wenn wir alle dasselbe Bild sehen, sieht jeder doch ein Verschiedenes. Dies geschieht immer, sogar in so einfachen Tarzan- oder Dschungelfilmen, etc. Werden wir gefragt, was wir gesehen haben, können wir bestimmen, dass wir verschiedene Filme innerhalb des einen gesehen haben. Unsere Wahrnehmung hat das für uns Wichtigere selektiert. Neben dieser Selektion gibt es ein anderes bekanntes Beispiel: eine Münze wird projiziert. Wird der Betrachter nach einer Grössenschätzung des Geldstücks befragt, so wird der Arme sie grösser als der Reiche einschätzen. Die soziale Determinante erzeugt verschiedene Wahrnehmungen desselben Objektes. Meine nächste Bemerkung führt in ein philosophisches und zugleich materialistisches Feld. Man würde sagen, wenn zwei Bilder das gleiche Bild zeigen, dass zwischen ihnen kein Unterschied besteht mit Ausnahme der Zeit, zu der sie aufgenommen oder gezeigt wurden. Dies ist kein offensichtlicher Unterschied. Man würde sie unterscheiden, weil niemals zwei Filmbilder identisch sein können. Das kann ein wenig dumm oder irrelevant klingen, ist es aber nicht. Das Korn in jedem Bild ist unterschiedlich auch wenn dasselbe Objekt dargestellt ist, kann es nicht dasselbe Bild sein. Dies wird deutlich, bläst man ein kleines Stückchen des Bildes auf, zu riesigen Dimensionen, dann erkennt man die Kornbewegung, den Träger der Information. Die Körner werden nahezu gleichzeitig in den Film “geschrieben”; ich bin unsicher, ob es Zeitunterschiede in Abhängigkeit zu den Farben gibt. Trotzdem wäre gleichzeitig korrekt (für die Wiedergabe), vergleicht man den Film mit Fernsehen, wo das Bild zweimal horizontal geschrieben wird. Von links nach rechts, Linie auf Linie wie eine Reflektion des Lesevorgangs: als elektronisches Buch. Ich frage mich, warum die Japaner keine TV-Apparate mit senkrechten Linien bauen. Technisch wäre dies leicht zu lösen. Vielleicht wissen wir eines Tages, wie dies westliche elektronische Buch die japanische Kultur beeinflusst hat.

Meine Definition des Films betreffend, möchte ich über einen Film, den ich 1967 gemacht habe, erzählen, was mehr als eine Anekdote sein soll. Zu dieser Zeit hatten wir einen Raum, und einen anderen unter diesem für die Filmherstellung, so war dieser ein richtiger Underground-Raum, oder ein feuchter Keller. Da unten schnitt ich einen Film, hängte die Filmstreifen an die Wand und die Wand war nicht trocken. Einer Reise wegen musste ich meine Arbeit für zwei, drei Monate unterbrechen. Als ich zurückkam, war die Wand schimmelig. Ich legte den Film ins Moviskop (ein Moviskop ist eine Filmbetrachtungsmaschine, an der Bild auf Bild angesehen werden kann). Nahm ich nun ein Bild des Films, ein normales Bild:
Gras und möglicherweise Dore im Gras und projizierte es, sah ich, wie die Hitze der Lampe einen Film entstehen liess, sogar ohne dass ein Bild bewegt wurde. Innerhalb der Gelatine eines Filmstreifens sind verschiedene Schichten der Emulsion wie Silber, Nitrate etc., was geschah, war folgendes: die Mikroben hatten sich innerhalb oder auf dem Zelluloid wegen der Hitze zu bewegen begonnen. So trugen diese kleinen Mikroben das Grün des Grases zum Himmel, oder sie trugen das Blau des Himmels herunter zur Erde, und natürlich trugen sie Dore. Es gab eine Menge Bewegung innerhalb des stehenden Bildes. Ich machte einige Vorstellungen mit diesen Bild-Filmen oder Ein-Bild-Filmen. Ich nannte die Filme stehender Film/bewegter Film, und fragte mich: kann ein einzelnes Bild ein Film sein?

Vorhin gebrauchte ich den Ausdruck von der “horizontalen Lesbarkeit” des Films. Ich möchte jetzt erklären, was ich darunter verstehe. Ich gebrauchte “horizontal”, indem ich mich auf die Verschmelzung der Kines in der Zeit-Achse beziehe. Jedoch ist da auch noch eine andere Verschmelzung, die Verschmelzung der unterschiedlichen Ebenen innerhalb des Materials selbst. Ich denke an Mehrfachbelichtungen. Man erkennt eine visuelle Ebene, dann mit der nächsten, dritten, vierten, fünften usw. kann man die Verschmelzungen unterscheiden, die sowohl additiv als auch substraktiv sein können; dies nenne ich vertikale Lesbarkeit. Horizontale Lesbarkeit ist ein Prozess, der sich im Hirn des Betrachters abspielt, wohingegen die vertikale Lesbarkeit auf Prozessen basiert, die schon zuvor im Filmmaterial geschehen sind. Dies ist ein wenig allgemeine Filmtheorie und etwas, das in meinen Filmen gefunden werden kann. Werner Nekes

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